Befreie dein Herz
Zieh durch die Welt wie der Mond
durch die Schar der Sterne
Buddha
Jede Stadt hat eine eigene Grammatik, eine eigene Wortwahl oder eine spezielle Art, sich selbst zu zitieren. Manche lesen die Dichte von Orten, das Gewicht oder den Klang, ihren Rhythmus, ihre Töne und Pausen. Manche lesen Frequenzen von Sicherheit oder Angst. Es gibt einen ersten Blick, Eindrücke und Attraktionen und es gibt weitere Lesarten.
„Unsere Straßen sind voller Zeichen. Wer sich treiben lässt, lernt, sie zu lesen.“ schreibt Gero von Randow in seinem Artikel „Über die vergessene Kunst des Flanierens“, ZEIT, 2016
Es fällt mir leicht, zu flanieren, Ziele zu setzen und zugleich zu vergessen, mich treiben zu lassen von Zeichen zu Zeichen. Schritt für Schritt mich einzufinden in die Textur des Gehwegs unter meinen Füßen. Gehen, ohne Ziel ohne Absicht, einfach weiterziehen. Auf immer gleichen, gewohnten Wegen mit Zeit unterwegs sein und im eigenen Viertel Neues bestaunen. Mein ganz individuelles Tempo des Erlebens, meine Art und Weise der Betrachtung, eine je nach Tagesform unterschiedliche Sinneserfahrung und Offenheit mit der ich präsent bin. Ich komme auch gerne ein zweites und drittes Mal irgendwo an. Die erste Orientierung ist da, ich kenne den Weg zum Fluss, habe ein Café, welches ich bereits mag, etwas von dem aus ich starte und wieder neu neugierig sein kann. Gehen, immer weiter gehen – die Kamera nah. Sehen und fotografieren gibt mir einen Grund.
Daniel Schreiber widmet in seinem Buch ‚Zuhause‘ dem Gehen einige Gedanken: „Der französische Philosoph Frédéric Gros hat sich ausführlich mit der Philosophie des Gehens beschäftigt. Er versteht das Gehen – das Spazierengehen, das Flanieren, das Wandern als einen idealen Weg, vom Leben zu pausieren und gewissermaßen die Zeit selbst anzuhalten. Für Gros ist das Gehen eine Tätigkeit, die Freiheit zum Ziel hat – die vorübergehende Freiheit vom alltäglichen Geschäft des Lebens, genauso aber die grundlegende Freiheit des Selbstvergessens, wie man sie etwa auch im Meditieren findet. Wenn man an den Punkt komme, so Gros, an dem man nicht mehr wisse, wie viele Stunden man schon gegangen sei, und an dem es unbedeutend werde, wohin man gehe und warum, werde alles nebensächlich – was man arbeite, wer man sei und woher man komme. Das Gehen, das lange, ausgedehnte Gehen, ist für ihn so gesehen eine Art und Weise zu verschwinden.“
So weit, so entspannt und vielleicht sogar romantisiert. Es gibt sehr unterschiedliche Limitierungen darin, wie Menschen sich im öffentlichen Raum aufhalten und ausweiten können. Manche fühlen sich tief in der Natur am sichersten, andere dort wo viele Menschen sind. Wenn ich allein unterwegs bin, dann eher tagsüber und nicht abends. Ich habe keine Angst an Orten, die andere als bedrohlich erleben und meide vielleicht andere Frequenzen der Stadt. In meinem Buch widme ich diesen Erfahrungen das Kapitel „Allein sein und der Welt zuhören“ und beschreibe einen Spaziergang in Paris. Als ich einige Zeit später mit meiner Nichte dort bin, bemerken wir, wie unterschiedlich neugierig wir als Frauen – je nach Alter – in Stadträumen sein können.
Die französische Fotografin Mame-Diarre Niang beschäftigt sich mit Stadtlandschaften und ihrer eigenen Resonanz darauf. Sie beschrieb in einem Vortrag ihre Erfahrungen im Jahr 2020. Sie lebte in Paris, wo die strikten Regelungen des Lockdowns mit einer Art Passierschein und viel Polizeipräsenz geregelt wurden. In genau dieser Zeit wurde George Floyd im Mai 2020 getötet und Mame-Diarre Verspürte durch die Mischung aus diesen beiden Ereignissen eine grundlegende Verunsicherung als „Black Body“, so ihre Worte, vor dem öffentlichen Raum.
Nicht nur jede Stadt, jeder Ort hat eine eigene Grammatik, sondern auch unterschiedliche Zugänge für Personen, die sie bewohnen oder erleben. Mein Plädoyer: Erobern wir uns diese Freiheit zurück, mit aller Fürsorge für die eigenen Ängste und mit allem Mut, uns zu erweitern. Es kann eine Übung sein das eigene Flanieren zu erkunden, zu bemerken wo und wie fühle ich mich wohl und sicher und wo möchte ich blitzschnell verschwinden.
Was sind deine Erfahrungen? Erkundest du Orte an deiner eigenen Grenze entlang? Achtest du auf Andere? Wie ist der Unterschied mit und ohne Kamera?
„Gehmeditation ist zwecklos, wenn sie nicht jeden einzenen Schritt genießen.“
Thich Nhat Han: Einfach Gehen
Erlin Kagge, Gehen. Weiter gehen