Tokyos Freundlichkeit

An der Passkontrolle am Airport kleben Blumensticker und handgeschriebene Zettel neben offiziellen Schildern. Für unsere Zugfahrt vom Flughafen in die Stadt bekommen wir ein hübsches Ticket, klein und rosa aus kräftigem Papier mit vielen Zeichen bedruckt. Die Frau am Schalter legt mir das Wechselgeld sehr elegant und wohlgeordnet auf ein kleines Tablett. Der Zug hängt voller Haltegriffe, die mich erahnen lassen, wie viele Menschen hier gemeinsam fahren können.

Tokyo ist viele Tokyos. Ich tauche eine in unterschiedlichen Welten dieser riesigen Stadt. Die Wechsel sind rasant. Von ganz laut ist ganz leise oft nur eine Straßenecke entfernt. Ich spüre diese Wechsel in meinem Körper und auch in der Art, die Kamera in der Hand zu halten. In den Seitenstraßen pflücke ich Wahrnehmung auf Wahrnehmung. An den überwältigenden Orten bemerke ich, wie ich verloren gehe. Meine Wahrnehmung ist nicht mehr konkret und ich suche Halt in Einordnungen wie „So ist Japan!“ Menschen mit Mundschutz, die mich irritieren. Menschen mit Smartphones überall. Ansammlungen an WiFi-Hotspots. Um nicht in solche Klischees zu rutschen, sondern wieder zu meiner Wahrnehmung zu finden, benötige ich dringend eine Pause! Ganz physisch: sitzen, ausruhen, etwas trinken. Ich bemerke, was innerlich geschieht, und kann ruhig werden. Frisches und unmittelbares Sehen wird wieder möglich.

Eine prall gefüllte U-Bahn und es ist ganz ruhig. Die junge Frau neben mir schaut ein Kosmetikvideo, eine Anleitung, die vorführt wie sie ihre Haare flechten kann. Währenddessen zieht sie deutlich hörbar die Nase hoch. Was für ein Kontrast für meine europäischen Ohren! Beides passt nicht zusammen und mir gefällt meine Irritation. Sie hält mich wach, genau hinzuschauen. Aus der Masse der grau und schwarz gekleideten Business-Männer löst sich einer heraus, der uns am Automaten hilft, ein Ticket für den Schnellzug zu lösen. Mindestens viermal bricht der Automat das Menü ab, weil wir zu langsam sind mit unseren Antworten auf die Fragen der Auswahl, und unser Helfer loggt sich geduldig und zutiefst freundlich wieder ein. Unser Anliegen ist zu seinem Anliegen geworden. Am Tag zuvor lösten wir alleine ein Ticket und bemerkten erst als wir uns umdrehten die lange Schlange der Wartenden hinter uns. Niemand hatte uns angetrieben. Diese Freundlichkeit erlebe ich Tag für Tag und sie berührt mich.

Trotz der Wolkendecke ist das Licht intensiv. Die Stadt ist schick, perfekt und ebenso zufällig und bescheiden. Mich überraschen Viertel mit kleinen Holzhäusern und abenteuerlichen Stahlkonstruktionen, Blechfassaden. Wohnviertel, in denen alles selbst gebaut aussieht neben Shopping Malls und Hochhäusern aus Beton. Klimaanlagen und Elektroinstallationen hängen an den Fassaden. Formen, Linien und Farben schachteln sich endlos übereinander. Die Stadt fühlt sich nicht eng an. Es parken wenige Autos am Straßenrand. Sie werden in Tief- und Hochgaragen verstaut. Der Verkehr ist leise, scheint dahinzugleiten. Alles ist wohlgeordnet und sauber. Keine Spur von Zigarettenkippen oder Kaugummipapier.

In einem Park nahe dem Fluss quert eine kleine Wasserschildkröte meinen Weg. Ein alter Mann trägt sie behutsam wieder in den Teich. Wir haben gemeinsam Spaß. Ich fühle, wie mich der Reichtum der Wahrnehmungen zutiefst glücklich macht. Wir landen im alten Teil der Stadt. Geikos und auch Männer in traditioneller Kleidung begegnen mir und obdachlose Menschen. Blühende Kirschbäume aus Plastik bilden den Background für die Selfies der zu spät gekommenen Touristen. An vielen Ständen werden Kekse und Teigtaschen aus dunkler Bohnenpaste in allen Geschmacksrichtungen gebacken. Ich ziehe eine Art I-Ging vor einem Tempel und stehe an für ein fixes Offering. Lächeln mit Menschen, deren Sprache ich nicht verstehe und sie meine nicht.

Die nicht erzählten Geschichten-Splitter

* das Restaurant, in dem man auf dem Boden sitzend auf heißen Platten Dinge zu Pfannkuchen rührt, während von oben die Klimageräte eiskalt in den Nacken pusten
* den Koffer vor dem Körper die Treppe hochtragen zur Rushhour in der U-Bahn und die persönliche Entschuldigung des Schaffners am Bahnsteig, dass er den Zug abfahren lassen musste, nicht ohne den Hinweis, dass der nächste sofort kommt
* Frau Ogura, die sich wiederholt zum Abschied verbeugt, als wir bereits zur Tür rausgehen
* das Mittagessen in der Kosmetikabteilung eines Bioladens
* die Fülle der Eindrücke in der Edeleinkaufstraße und dem angrenzenden Manga-Anime-Viertel, die mich die Kamera fast aus der Hand legen lassen, so sehr fühle ich mich überwältigt von allem
* die Freude und Freundlichkeit in der Papeterie Kakimori und der Austausch über die Kindheitsjahre der Verkäuferin in Düsseldorf-Oberkassel
* der bezaubernde Spaziergang durch ein Viertel voller Tempel

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