Unter dem Vulkan
Auf unserem Weg zum Vulkan von Methana, fahren wir durch das Dorf Kameni Hora und ich verspüre den Wunsch anzuhalten und zu bleiben. An diesem Tag fahren wir weiter, unser Ziel ist der Vulkan. Wir genießen die Wanderung und den weiten Blick. An einer schönen Stelle hoch oben, wie im Himmel, umgeben von Wetter und Weite, sitzen wir gemeinsam eine ganze Weile und der Moment, die Verbindung sinkt tief in mich ein. Wir klettern mit dem Auto auf der anderen Seite die steilen Serpentinen wieder herunter und feiern in der Taverne am Meer.
Einige Tage später kommen wir zurück. Dieses Mal bleibe ich in Kameni Hora. Den Vulkan kann ich auch von hier unten betrachten. Der weiche, rote Stein wölbt sich über das Dorf. Gegenüber der Taverne ist ein kleines Amphitheater, Steinstufen, wilde Artischocken, Bienenstöcke, Schmetterlinge, überall blüht es. Auf den warmen Stufen komme ich ein wenig zur Ruhe. Ich bin langsam, die Kamera ist nah. Es ist bereits der achte Tag des Miksang Training Intensive. Wir erforschen, wie wir klar und wach in Kontakt gehen können mit genau dem, was uns umgibt. Wie wir sensibel und präsent sind. Wir reflektieren das Erleben von Momenten, entwickeln Sensibilität für Wandel, für Vergänglichkeit. Am Tag zuvor gab ich der Gruppe die Aufgabe „Fotografie von Menschen“. Am Morgen sprach ich über dieses Zitat von Chögyam Trungpa, welches mich seit Jahren begleitet.
„The only true elegance is vulnerability.“
Es klingt wie zwei Begriffe, die nicht zusammen gehören. Eleganz und Verletzlichkeit in einem Gedanken. Wir vermeiden oft verletzlich zu sein, oft sogar schon Unsicherheit – geschweige denn verwundbar, ungeschützt oder empfindsam zu sein.
Die Teilnehmer_innen haben sich hineinbegeben und kamen zurück mit wachen Erlebnissen und Bildern. Sie plauderten mit den Fischern im Hafen; hatten Spaß mit Eltern und Kindern, die auf dem Pier gemeinsam spielten. Andere spürten ihre eigene Schüchternheit gegenüber fremden Menschen oder auch Vertrauten. Ich gehöre zu den Schüchternen. Ich mag es mich einzufinden in Situationen und Menschen zu betrachten, ihre Besonderheiten zu bemerken. Aber meine Kamera bleibt bei Fremden oft in der Tasche. Einige Tage zuvor war ich der Einladung von Fischern auf einen Schnaps und einen Happen rohen Thunfischs gefolgt, um zu erleben, dass ich gar nicht wusste wie ich mich verhalten sollte vor lauter Unsicherheit.
Hier ist niemand weit und breit zu sehen. Ich höre Schafe. Mitten in der Landschaft eine Telefonzelle. Neben einem Haus entdecke ich den kostbarsten Kompost, den ich je sah – eine Mischung aus Blüten und zu frühen Feigen. Ameisen schleppen riesige Halme. Ab und zu fährt ein beeindruckend altes Auto vorbei oder ein Duft weht mir entgegen. Rechts und links der Straße führen schmale Pfade zu Ansammlungen von Häusern. Ich biege rechts ein. Tropfen von Licht fallen auf Wäsche, die zum Trocknen auf der Leine hängt. Weiße Handtücher unterschiedlicher Webart. Ich bin so vertieft in das, was ich sehe, dass ich erst nach einer kleinen Weile die Frau bemerke, die nicht weit von der Wäsche auf einem Stuhl sitzt. Der Weg hat sich aufgeweitet und ist gleichzeitig die Terrasse vor ihrem Haus. Sie lädt mich ein mich zu ihr an den Tisch zu setzen und wir beginnen ein Gespräch aus Worten und Gesten. Meine wenigen griechischen Worte sind bald erschöpft. Sie zeigt auf ihre schwarze Kleidung und erzählt mir, dass ihr Mann gestorben ist. Das verstehe ich unmittelbar, ihr Ausdruck ist eindeutig. Sie verschwindet in dem kleinen Haus und kommt mit dem gerahmten Bild ihres Mannes und einem Glas Wasser für mich zurück. So sitzen wir eine Weile miteinander am Tisch. Vielleicht weil wir nicht sprechen können, berührte ich ihren Arm. Ich frage sie, wann ihr Mann gestorben sei, sie versteht mich nicht. Mir ist nicht klar, wie lange dieser Verlust zurück liegt. In einer Art absurder Unsicherheit greife ich zu meinem Smartphone und versuche meine Frage zu übersetzen. Kein Signal. Sofort wird mir klar, wie unnötig und störend das war und ich stecke das Telefon tief in die Tasche. Sie klappt ihr winziges Telefon auf und zeigt mir ein Foto mit zwei Kirschen in einem Display, der kleiner ist als eine Streichholzschachtel. Wir setzen das Berührungen-am-Arm-Gespräch fort. Sie zeichnet die Narben an meinem Ellenbogen nach und ich versuche ihr mit Gesten zur erklären durch welchen Unfall sie entstanden. Wir lachen. Sie deutet auf die Narben an ihrem Arm. Ihre Nachbarin kommt und gemeinsam zeigen die beiden Frauen mir die Ziegen im nahen Stall. Als ich mich verabschiede, klingelt das Kirschentelefon und ich höre sie erzählen, dass gerade eine Deutsche hier sei. Sie winkt.
Ich setze meinen Weg durch den Ort fort. Mehr Blüten, mehr üppige Spiele von Licht und Schatten. Hinter der Kirche auf dem Friedhof, der sich eng in den Hang lehnt, finde ich zwei Gräber, die mit frischen Blumen geschmückt sind. Ich sitze eine ganze Weile dort. Zwei Kreuze zeichnen sich glänzend vor dem Vulkan ab.
Auf dem Weg zurück zur Taverne begegne ich meinen Freunden. Ich genieße diese Wechsel von Alleinsein und gemeinsam genießen, was uns umgibt. Zu dritt versuchen wir die Schatten der Insekten auf der Häuserwand einzufangen. Der Tag fühlt sich an, als würden alle Sinne geduscht, sagt einer von Ihnen. Die Weite, die Düfte, die Wärme der Sonne. In der Taverne serviert uns Theodoro, der übrigens auch das Amphitheater gebaut hat, einen Imbiss und Limonade, Wein und selbstgemachten Likör aus den Blüten, die auch die Schmetterlinge so lieben. Beim Abschied erzähle ich ihm von meiner Begegnung mit der Trauernden und frage wann denn der Mann gestorben sei. „Vor zwei Tagen“ sagt er. Im zweiten Grab wurde Theodoros Vater beigesetzt. Er starb vor zehn Tagen. Da ist sie wieder, die Traurigkeit inmitten all dieser wilden Schönheit unterhalb des Vulkans.
Klick auf das erste Bild, um die Fotos groß anzuschauen.
❤️ eine sehr berührende Erzählung – vielen Dank fürs Teilen 🌺
Dankeschön!
Ah! Ich bin ganz da wieder … wunderbare wörte 🙏😇
Bedankt!
You can also read it in english. There is a flag above, in the right corner of the website
Sehr schön. Ich fühle mich eingeladen in diese Stimmung.
Beim lesen habe ich den Ausflug nochmal erlebt mit all den Gerüchen, Farben und der tiefen Freude, die ich dort empfunden habe. Danke für die einfühlsamen und berührenden Zeilen.
das freut mich natürlich sehr!