Der TGV von Frankfurt nach Avignon ist zweistöckig. Der Ausblick aus dem Fenster der unteren Ebene gefiltert durch ein Netz aus Staub auf den Scheiben. Ich nehme Platz in der sorgsam gebuchten Realität. Alle Tickets und Apps warten in meinem Smartphone, seit vorgestern bekomme ich Erinnerungen, welche Buchung jetzt bald oder dringend bevorsteht. Ich recherchierte ausgiebig, studierte Verbindungen, wägte Vor- und Nachteile von Strecken ab. In einem Interview las ich schließlich die Empfehlung, von Deutschland nach Madrid über Avignon zu reisen.
Viele Bahngesellschaften werben mit der Reaktivierung von Langstrecke und Nachtzug und genau diese Empfehlung gibt mir auch eine Bekannte. „Fahr doch mit dem Nachtzug Schweiz-Malaga. Das habe ich auch mal gemacht.“ Wir lachen als wir feststellen, dass dies vermutlich ähnlich lang her ist wie mein 3000 km und 50 Stunden-Trip mit dem Hellas-Express von Dortmund nach Thessaloniki. In einem Liegewagen, der tagsüber zu einem 6-er Abteil umgebaut wurde. Ich erinnere mich, dass die Rucksäcke auf Ablagen hoch oben im Flur verstaut wurden. Dort rauchten wir am offenen Fenster auf dem Weg durch Jugoslawien und kochten Kaffee auf einem Campingkocher mit Gaskartusche. Besonders auf dem Rückweg von Thessaloniki nach Dortmund bildeten wir eine Gemeinschaft im Abteil. Nicht nur das Öffnen und Schließen der Fenster wurde einvernehmlich verhandelt, sondern auch die Zeit, wann wir schlafen gingen und vor allem das gemeinsame Essen. Alle öffneten die Taschen und teilten hausgemachte Köstlichkeiten. Mit Schafskäse oder Spinat gefüllte Pitataschen, gebratenes Hühnchen, saftige Tomaten aus dem Garten, Oliven, Melone und süßer Kuchen. Der Hellas-Express ist Geschichte, ebenso wie der dunkelblaue Nachtzug Zürich-Malaga.
Mit 297 km/Stunde rast der TGV von Strasbourg nach Mulhouse. Wir durchqueren Europa auf separaten Schienen ohne Umstieg an einer Grenze und mit meiner Nachbarin bilde ich keine Gemeinschaft. Sie ist in Chats versunken. Plötzlich stoppt der Zug, die Türen öffnen, alle dürfen auf dem schmalen Bahnstein von Sathonay-Rillieux spazieren gehen oder den Hund ausführen. Meine Nachbarin beginnt zu sprechen. Menschen lassen sich mit Büchern auf dem Bahnsteig nieder. Ein Mädchen trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Kindness – A quality of being friendly, generous and considerate to others.“ Die Stimmung ist ganz entspannt und schön, der Vollmond am Himmel bereits zu sehen. Wir werden eine lange Verspätung haben, irgendwo wurde ein ‚herrenloser’ Koffer gefunden.
Der größte Knoten im Kopf bei dieser Reise war für mich Avignon. Die Übernachtungen waren unerschwinglich hoch, mit Glück fand ich ein bezahlbares privates Zimmer – mit einem jedoch komplizierten Weg zum TGV-Bahnhof, der außerhalb des Zentrums der Stadt liegt. Ich richtete mir vorsorglich die Uber-App ein. (Bisher hatte ich Uber abgelehnt, nicht wirklich informiert, mit einem diffusen Vorbehalt, ob die Nutzung politisch korrekt ist – oder nicht?)
Unter dem Vollmond, auf dem Bahnsteig beginne ich mit meiner Vermieterin Florence zu chatten und diese ist wunderbar verbindlich, sich auch auf eine sehr späte Ankunft einzurichten. „Wir sind nicht mehr in dem Alter, dass wir auf den Stufen von Bahnhöfen Wassermelonen essen oder irgendwo nächtelang warten bis der nächste Zug fährt.“ sagte meine Freundin noch vor der Abfahrt.
Ich finde mich also um 11 Uhr nachts am futuristischen TGV-Bahnhof Avignon wieder, der einem Flughafen ähnelt. Aus dem Bahnhof tretend umweht mich dieser Duft von Trockenheit und Nadelbäumen. Die Nacht ist warm. Ich durchquere einen Park, große schmiedeiserne Tore grenzen die Straße ab, Autos gleiten geräuschlos an mir vorbei, während ich in zwei Apps parallel mit Florence chatte und gleichzeitig beobachte, wie das Auto von Daniel sich auf dem Stadtplan nähert. Ich weiß bereits, dass Daniel englisch spricht. Die Antworten von Florence werden in der App automatisch vom Französischen ins Deutsche übersetzt. Alles fühlt sich sehr surreal an. Zwischendurch schaue ich auf, sehe dass hohe Tor, welches den Bahnhof ganz sicher nachts absperrt. Hier isst niemand mehr Wassermelonen. Wenige Minuten später gleite ich selbst in einem dieser geräuschlosen Autos und erreiche nach einem warmen Empfang ein Apartment mit Aussicht in den nächtlichen Himmel. Der schöne Duft ist überall in der Stadt.
„Je suis la!“ Gregory steht morgens vor der Tür. „I need your help“ tippe ich in die App „I can’t get out of the fence.“ Gregory sieht mich, winkt und signalisiert das sei nicht sein Problem. Ich bin hinter einem 2 m hohen Zaun eingeschlossen und fühle mich wie ein Huhn, welches auf und abläuft. Alle Schalter, die ich auslöse bleiben ohne Reaktion. Es ist früh genug, dass der Müllfahrer unterwegs ist und den Nachbarn von oben aktiviert. Das große, grüne Tor fährt zur Seite und ich erinnere mich, dass Florence gestern Abend mehrfach das Wort ‚Securité’ benutzte. Jetzt sehe ich überall die Mauern, Zäune und Tore. Wenige Minuten später durchqueren wir das schmiedeeiserne Tor am Bahnhof. Check-In zum Bahnhof per Scan, Komfort Check-In im Zug.
Und dann nur noch 7 mühelose Stunden durch die Landschaft Südfrankreichs und Spaniens, vor dem Fenster Weinreben, Textilindustrie und offene Weite, bis Madrid Porte d’Atocha.
Ich bemerke natürlich mein Alter in dieser Aufzeichnung und meine Privilegien. Niemand fährt heute noch rauchend durch ‚Jugoslawien‘ und nur mit Zugang zu all den digitalen Barrieren bin ich mit 2×7 Stunden Fahrzeit innerhalb von knapp 26 Stunden in Madrid.
Vom Bahnhof aus geht man eine halbe Stunde zu Fuß entlang dem Botanischen Garten und dem Prado zur Fundación Mapfre. Dort werden gerade die Arbeiten von Pérez Sequier ausgestellt. Er beobachtete die Ankunft der Touristen im Spanien der 60er Jahre in seiner Serie ‚La Playa’. Manuel Fraga, Minister unter Franco bewirkte eine Öffnung für Touristen und veränderte dadurch die Klangfarbe der Diktatur. Die ersten Urlauber wurden wie in einer Art künstlich dekorierter Welt möglichst abgegrenzt. Und trotzdem begegneten die Spanier:innen ihnen.
PS: Mir persönlich sind die Serien ‚La Chanca en Color’ und ‚La Brisena’ von Perez Sequier näher.
PS: Ein Tipp zur Recherche der Zugverbindungen Deutschland – Spanien.
Frankreich und Spanien haben unterschiedliche Spurweiten mit Umsteigebahnhöfen am Mittelmeer oder am Atlantik, per Zug jeweils etwa 10 Minuten voneinander entfernt. Hendaye – Irun und Cerbere – Portbu. Im Katapult Magazin entdecke ich eine Grafik mit den europäischen Spurweiten und die Erklärung diese seien militärstrategisch entstanden. Diese Grenze macht auch jede Suche nach Zugverbindungen per App kompliziert. Möchte ich etwa von Bilbao nach Paris reisen wird mir vorgeschlagen, eine etwa 20stündige Verbindung über Barcelona zu nutzen. Anstatt etwa 2 Stunden Bilbao – Irun, wenige Minuten von Irun nach Hendaye und dann 4:40 bis Paris.
PS: Im Bahnhof Atocha leben übrigens Schildkröten. Im Palmengarten der historischen Ankunftshalle setzten Madrilenen ihre Haustiere aus.